Gleichstellung als zentrale Lösung für Arbeitsmarktkrise

Expertinnen fordern Steuerreform und klare Anreize aus den Unternehmen  

Die Wirtschaft ist, auch wenn es die aktuelle Debatte anders vermuten lässt, dem zunehmenden Arbeits- und Fachkräftemangel nicht machtlos ausgeliefert. Im Gegenteil: Unternehmen haben eine ganze Reihe an Möglichkeiten, bislang brachliegende Potenziale auszuschöpfen. Zentral ist die stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen. „Der demografische Wandel führt dazu, dass jetzt und in den kommenden Jahren große Teile der Belegschaften, nämlich die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge, in Rente gehen. Um diesen erdrutschartigen Wegfall von Arbeits- und Fachkräften zu kompensieren, ist es unerlässlich, das Erwerbspotenzial von Frauen zu steigern“, erklärt Martina Schmeink, geschäftsführende Vorständin des Demographie Netzwerks, das sich für erfolgreiche Beschäftigungsstrategien und Gender Equality, also die Gleichstellung der Geschlechter, einsetzt.

 

Dass hier immenses Potenzial brachliegt, zeigt zum Beispiel der Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums, der jährlich die Gleichstellung in den vier Bereichen Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und Politik analysiert. Demnach ist die Frauenerwerbsquote hierzulande zwar eine der höchsten im internationalen Vergleich. Allerdings wird bei genauem Hinschauen deutlich: Fast die Hälfte der erwerbstätigen Frauen sind in Teilzeit beschäftigt. Das wirkt sich nicht nur gesamtgesellschaftlich durch niedrige Frauenquoten, sondern auch im Gender Pay Gap und im Gender Pension Gap, also einer schlechteren finanziellen Absicherung im Alter, aus.

Diverse Vorstände machen Unternehmen erfolgreicher
Eng damit verknüpft ist eine weitere Ungleichheit, nämlich die ungleiche Verteilung der Vorstandspositionen unter Frauen und Männern. Die AllBright Stiftung hat in ihrem jüngsten Bericht einmal mehr die Präsenz von Frauen in deutschen Unternehmensvorständen sichtbar gemacht. Das Kernergebnis: In den Vorständen tut sich etwas in Sachen Gleichberechtigung, aber es ist noch viel Luft nach oben. Der Zuwachs des Frauenanteils geht allein auf die 40 großen DAX-Konzerne zurück. Mehr als die Hälfte der an der Frankfurter Börse notierten Unternehmen hat noch immer keine einzige Frau auf der obersten Management-Ebene.

„Dieses Ungleichgewicht beruht vielfach auf impliziten Annahmen und traditionellen Zuschreibungen, die allerdings weder zutreffen noch zeitgemäß sind. Tatsächlich ist die Motivation zur Karriere bei Frauen und Männern nämlich gleich hoch“, erklärt Martina Schmeink. „Unternehmen verschenken großes Potenzial, wenn sie Frauen schon im Bewerbungsprozess abwerten, weil sie die mutmaßlich unzuverlässigeren Arbeitnehmenden sind und sich stärker auf die Familie als die Karriere konzentrieren wollen. Erwiesenermaßen sind Unternehmen mit diversen Vorständen und weiblichen Führungskräften produktiver, innovativer und nachhaltig erfolgreicher.“

Beispiele Schweden und Island: Reform des Steuerrechts unumgänglich
Wie das gelingt, kann man zum Beispiel in Schweden und Island sehen. Hier wurden entscheidende politische Signale gesetzt, die die Gleichberechtigung fördern, was sich in Schweden mit dem EU-weit geringsten Gender Pay Gap auswirkt. Eine verpflichtende Elternzeit für beide Elternteile, ein geschlechtsneutrales Recruiting, ein Ausbau der Kinderbetreuung, eine Abschaffung des Ehegattensplittings, doppelt besetzte Führungspositionen – in Schweden wurden sowohl seitens der Politik als auch in den Unternehmen eine ganze Reihe an Maßnahmen umgesetzt, mit denen sich das Erwerbspotenzial von Frauen steigern lässt.

„Wir haben in Deutschland eine sehr starke gesellschaftliche Vorstellung, dass ‚Er‘ Karriere macht und ‚Sie‘ etwas hinzuverdient, denn der Staat belohnt dieses Modell seit den 50er-Jahren über das Ehegattensplitting. Bei der heutigen Lage am Arbeitsmarkt ist das ein starker Fehlanreiz. Frauen bilden eine große ungenutzte Reserve auf dem deutschen Arbeitsmarkt. In kaum einem Land arbeiten Frauen so wenig wie in Deutschland. Knapp die Hälfte der Frauen arbeitet Teilzeit, Minijobs werden zu zwei Dritteln von Frauen ausgeübt. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, brauchen wir einen konsequenten Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen, flexible, menschliche Arbeitszeiten in den Unternehmen und ein Steuersystem, das das Dual-Career-Modell belohnt und nicht ein Familienmodell aus den 50er-Jahren“, sagt Dr. Wiebke Ankersen, Geschäftsführerin der AllBright Stiftung.

Gleichstellung braucht Anreize
„Nicht nur die Politik, auch die Unternehmen sind gefordert, die richtigen Anreize zu setzen, zum Beispiel, um Elternzeit zu gleichen Teilen aufzuteilen“, ergänzt Martina Schmeink vom Demographie Netzwerk. „Damit überhaupt erst eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich wird, sind flexiblere Arbeitszeitmodelle, weg von der 40-Stunden-Woche, hin zu kürzeren Kernarbeitszeiten, nötig. Dazu ist bei der Zuschreibung von Care-Arbeit ein Umdenken bei Führungskräften gefordert.“

Insgesamt ist nach Auffassung von Martina Schmeink eine deutliche Flexibilisierung der Arbeitswelt notwendig, die sich insbesondere an den Lebensumständen von Familien orientiert: „Flexibilität darf man nicht fordern, sondern muss man bieten. Viele Frauen sind heute schon diejenigen, die Flexibilität in der Doppelbelastung beweisen. Flexibel müssen diejenigen werden, die sich bislang passiv und fordernd verhalten. Dazu gibt es in einigen Unternehmen schon gute Konzepte: Vertrauensarbeitszeit, Zeitwertkonten und Wahlarbeitszeit etwa sind Instrumente, die zu einer höheren Flexibilität und damit auch der realistischen Möglichkeit einer Vereinbarung von Care- und Erwerbsarbeit beitragen.“

Über Das Demographie Netzwerk e.V. (ddn)
Das Demographie Netzwerk e. V. (ddn) ist ein gemeinnütziges Netzwerk von Unternehmen und Institutionen, die den demographischen Wandel als Chance begreifen und aktiv gestalten wollen. ddn wurde 2006 auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und im Kontext der Initiative neue Qualität der Arbeit (INQA) gegründet. Die Mitglieder engagieren sich mit dem Anspruch „gemeinsam Wirken“ und in kollaborativer Zusammenarbeit. In regionalen und überregionalen Foren, in digitalen und persönlichen Treffen bearbeitet das Netzwerk Themen wie Qualifizierung, Digitalisierung, Führung und Diversity. ddn initiiert, leitet und unterstützt Förder- und Forschungsprojekte zu seinen Themen, aktuell unter anderem die Projekte Dico und KIWW. Seit 2020 verleiht ddn den Deutschen Demografie Preis ddp.